Rhein-Neckar-Zeitung, Ausgabe Kraichgau / Sinsheim, Mittwoch, 7. Dezember 2022

Ein Oratorium wie aus der Tagesschau

Bei Bachs Weihnachtsoratorium verknüpfte das Vokalensemble Sinsheim einmal mehr musikalisches Schwergewicht und Polit-Botschaft

Von Berthold Jürriens
Sinsheim. „Der Schmerz und das Böse sind nicht das letzte Wort“: Am Ende verkündete dieses Zitat von Papst Franziskus auf Pappkartons eine Weihnachts-botschaft: kein Abfinden mit der Ungerechtigkeit und der Gewaltin einer spannungsgeladenen Welt, gerade zu Weihnachten Freude und Hoffnung empfangen und leben. Es waren die versöhnliche Botschaft und die famosen Interpreten auf der Bühne, die das Publikum in der Dr.-Sieber-Halle nach und nachstärker applaudieren ließ.
Denn das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach wurde vom Vokalensemble Sinsheim unter der Leitung von Erwin Schaffer in einer Form in Szene gesetzt, auf die man sich einlassen musste, selbst wenn die Originalgestalt der Musik unverändert blieb. Eine Aufführung des populärsten Werks von Bach weckt gewisse Erwartungen – umso mehr, wenn diese szenisch ist.

Politische Botschaften wie die, dass jedes Zeitalter seine Herodes-Figuren hat, wurden in der Inszenierung des Vokalensembles und von Uschi Barth mithilfe aktueller Konterfeis auf die Leinwand projiziert. Foto. B. Jürriens Genau mit diesen Erwartungen spielten Schaffer sowie Dramaturgin und Theatermacherin Uschi Barth, die Bachs Panorama der Menschlichkeit und der Gefühle mit ihrer Inszenierung in die Gegenwart holten und damit auch das heutige Verständnis von Weihnachten hinterfragten. Ein derart andächtiges Werk mit psychedelisch verzerrten Gitarrenriffs zu eröffnen, die Konzertbesucher mit Bildern von Putin und Trump, aber auch von Mutter Teresa, zu konfrontieren und Aufnahmen von Elend und Schönheit des Planeten einzubinden, hierzu gehörten Kreativität und Mut. Die Botschaft von Christi Geburt bewegt nun mal, vor und auf der Bühne, auf der der Chor sich mittels Gesten und Körpersprache eine „desinteressierte Masse“ mimend – dieser Botschaft entzog. Nach und nach wendete sich das Vokalensemble in dessen Spiel einem gesonderten, kleinen sogenannten „Favoritchor“ mit farbigen Schals zu, der in Chorälen die Heilsaussagen besang. Befremden, Verunsicherung, Begeisterung – die Meinungen über die Aufführung, deren Inszenierung fast durchweg beeindruckt hat, gingen auseinander. Freiraum für Interpretationen gab es reichlich. Raus aus der Komfortzone, hieß es für die Konzertbesucher, für die das Werk über Jesu Geburt fester Bestandteil einer Kulinarik der Besinnlichkeit geworden ist. Dynamik statt Statik, profane Halle statt Sakralbau. Die Kantaten eins, drei und sechs wurden dargeboten; aus Oratorium zu hören; „Fest der Liebe“ und „Wunder Gottes“ wurde zunächst auf die Leinwand gesprüht. Der Chor, ganz in weiß gekleidet, schleppte Geschenke und volle Einkaufstaschen imGedränge. Eine ritualisierte Weihnachtszeit mit Kitschschmuck, Buden, Licht und Konsumartikeln rauschte über die Leinwand, zerstört von Karl Schramms bizarren Gitarren-Tonfolgen. „Jauchzet, frohlocket“ posaunte der Chor dann mit rhythmischer Leichtigkeit und großem Engagement auf der Bühne. Den prächtigen Beginn von Bachs musikalischem Schwergewicht hatte der Meister zuvor bereits in einer Glückwunschkantate verewigt und somit selbst für eine Art weltliche Überschreibung gesorgt. Da durfte man auch Bilder von Hoffnung, Einsamkeit, Gemeinschaft, Vertreibung und Flucht benutzen, die zur Aus- einandersetzung mit Bachs musikalischer Geburtserzählung aufleuchteten.  

 

 Von Befremden bis Begeisterung reichten die Reaktionen auf eine der aufwendigsten Darbietungen von Erwin Schaffers Chor seit längerer Zeit. Foto: B. Jürriens Gegenwärtige Lebensverhältnisse im „Spiegel von Weihnachten“, in dem die eigentliche Botschaft oft verloren geht. Ideen aus Schaffers Hirn, der nicht nur im Dunkeln als Dirigent glänzte, sondern sich auch als beständiger Beobachter mit einem ungeschönten und kreativen Blick auf solche Werke hervortut. Harmonisch erklang dazu die spielfreudige Kurpfalzharmonie mit ihrem Konzertmeister Arne Müller, der später auch an der Solovioline brillierte. Tenor Holger Ries zeigte, wie man das Herz von Musik und Text gleichzeitig trifft und sorgte mit seinem solistischen Sprechgesang als Evangelist für die echte Erhabenheit der Weihnachtsgeschichte. Farbig wurde es mit dem Erscheinen von Maria und Josef auf der Bühne, die nicht nur als optische Farbtupfer, sondern auch gesanglich überzeugten. Altistin Claudia Hügel und Kai Preußker mit seiner Bassstimme gehörten zu den Höhepunkten, zu denen sich Sopranistin Ilkin Alpay ab der dritten Kantate dazugesellte und nochmals deutlich wurde, was für ein beachtliches Gesangsquartett da gerade im kleinen Landstädtchen gastierte. Genannt werden muss auch der sensibel gestaltende „Favoritchor“ mit Sopranstimme Carmen Schrötel, Altstimme Viola Schuch, Tenorstimme Justin Brandmeier und Bassstimme Alexander Frank. Bilder und Videos schlugen dabei immer wieder den Bogen zur Weltlage. Konterfeis von Trump über Bolzonaro bis Bin Salman dienten als Hinweis, dass jedes Zeitalter seine Herodes-Figuren hat. Dazu hielt der Chor Papp- schilder mit Mahnungen hoch: „Demokratie“ stand darauf oder „Freiheit“, „Umweltschutz“ oder „Toleranz“. „Ein Bühnenbild wie aus der Tagesschau“, meinte ein Besucher. Ein außergewöhnliches Weihnachtsoratorium, das an die tröstliche Botschaft in Bachs Musik erinnerte, aber auch Platz für die Frage ließ, was Weihnachten bedeutet – heute und überhaupt.  

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Heilbronner Stimme/Kraichgau/Sinsheim - Dienstag, 06.12.2022